Wir müssen uns trainieren, die Vielfältigkeit von Menschen auszuhalten: Josephine Macfoy über Rassismus und Engagement in Berlin
Notiert von jor ~ 11. September 2020 ~
Zehn Jahre Berliner Engagementwoche: Die Landesfreiwilligenagentur Berlin hat Antreiber:innen und Beobachter:innen der Berliner Zivilgesellschaft auf ein Wort gebeten – nachgefragt, in dieser Coronazeit. Heute Josephine Macfoy, Lokal-Redakteurin der Berliner Woche, im Gespräch mit René Tauschke.
Die Landesfreiwilligenagentur Berlin und das Landesnetzwerk Bürgerengagement Berlin als zentrale Veranstalter der Berliner Engagementwoche haben sich für 2020 das Jahresmotto Lern.Ort.Engagement gesetzt. Was bedeutet das Motto „Lern.Ort.Engagement.“ für dich? Was hast du aus dem Engagement gelernt?
Die Engagementkultur Berlins ist ein Beweis dafür, dass es grundsätzlich ein großes Potenzial in der Bevölkerung gibt, einander zu unterstützen. Die vielen Ehrenamtlichen zeigen, dass Werte wie Mitgefühl und Zivilcourage sehr lebendig sind. “Lern.Ort.Engagement.” bedeutet für mich, dass Menschen zusammenkommen, vor Ort in den Kiezen, voneinander lernen und gemeinsam etwas Gutes für die Stadt schaffen.
Du schreibst unter anderem für die Berliner Woche aus dem Bezirk Neukölln und Treptow-Köpenick. Im Tagesspiegel hast du auch über deine Erfahrungen mit Rassismus berichtet. Wie präsent ist der Rassismus in Berlin in deinen Augen?
Leider ist er sehr präsent. Oft habe ich das Gefühl, Rassismus ist mittlerweile ein Ventil für alle möglichen Unzufriedenheiten. Viele haben – nicht erst jetzt – Angst vor einem sozialen Abstieg. Oft wird dieser den vermeintlich “anderen” angelastet, einfachen Feindbildern. An ganz vielen Stellen der Gesellschaft gibt es gerade solche Spannungen. In den letzten Jahren wurde dabei immer weniger miteinander geredet, sondern viel mehr gegeneinander.
Warum es Rassismus noch immer gibt
Seit Jahren gibt es die Hoffnung, dass Rassismus irgendwann kein Thema mehr ist. Was ist der Grund, warum es Rassismus noch immer gibt?
Seine Geschichte wurde nie richtig aufgearbeitet. In der Schule lernt man zum Beispiel kaum etwas über den Kolonialismus, dabei stammen aus dieser Zeit viele furchtbare Klischees, die immer noch verbreitet sind. Auch im Alltag gibt es noch zu wenig Sensibilität dafür. In den letzten Jahren ist Schreckliches passiert, zum Beispiel die NSU-Morde, Überfälle auf Flüchtlingsunterkünfte, Morde in Kassel und Hanau und die Anschlagsserie in Neukölln. Trotzdem müssen immer noch Menschen, die Rassismus erleben, erklären, dass er gefährlich ist.
2020 ist vielleicht endlich ein Wendepunkt, an dem die Gesellschaft begreift, dass es zu einem Klima beiträgt, in dem Extremisten sich stark fühlen, wenn so viele Menschen zum Beispiel bei Pöbeleien, Hasskommentaren oder “nicht böse gemeinten Witzen” einfach still bleiben. Rassismus ist nichts, was sich gegen Einzelpersonen richtet, sondern gegen die Idee einer vielfältigen Gesellschaft.
Warum fällt es der deutschen Gesellschaft so schwer, sich einzugestehen, dass Rassismus noch weit verbreitet ist?
Das hat hauptsächlich etwas mit Selbstreflexion zu tun. Es gibt einen Widerwillen, darüber nachzudenken, welche Vorurteile man selbst hat. Der kommt wohl daher, dass es anstrengend ist, alte Muster aufzugeben und an sich zu arbeiten. Letztlich bin ich aber überzeugt, dass das die einzige Möglichkeit ist, in einer globalisierten Welt friedlich zusammenzuleben.
Den Leuten auch einfach mal offen zuhören
Wer kann die Menschen zur Selbstreflexion anstoßen? Schaffen es die zivilgesellschaftlichen Akteure und der Großteil der Gesellschaft gemeinsam?
Jeder kann das, auch im Kleinen, indem er oder sie ein Beispiel ist und einschreitet, wenn andere beleidigt, ungerecht behandelt oder angegriffen werden. Als Mensch, der hinter den Werten des Grundgesetztes steht, sollte man es nicht zulassen, dass das Zusammenleben von wenigen vergiftet wird. Es gibt auch viele Formate für einen Austausch mit Betroffenen. Man muss nicht hundert Bücher lesen, man kann den Leuten auch einfach mal offen zuhören und darüber nachdenken, gerade ist das besonders leicht. Für solche Begegnungen unterschiedlicher Menschen spielen Initiativen eine besonders große Rolle.
Welche Rolle kommt den Initiativen zu? Was haben sie bereits erreicht? Was können Sie noch erreichen?
Sie bringen die Menschen zusammen. Gerade in Berlin sitzen wir auf einem großen Schatz: Hier leben ganz unterschiedliche Menschen überwiegend friedlich zusammen. Wenn man das bestärkt, dass Menschen aufeinander zugehen und sich mit anderen Meinungen, Lebensweisen und Identitäten auseinandersetzen, kann man nachhaltig etwas verändern.
Das Gesprächsklima hat sich insgesamt erhitzt
In den letzten Jahren gab es viele Ereignisse, die Zweifel an einer Entwicklung hin zu einer vielfältigen, friedlichen Gemeinschaft aufkommen lassen. Hat die Intensität von Rassismus in den letzten Jahren zugenommen?
Wenn ich an meine Kindheit in Reinickendorf und Schöneberg denke, dann hatte ich immer das Gefühl, die Gesellschaft geht auf Versöhnlichkeit zu. In den letzten zehn Jahren ist es, sicherlich auch durch den Ton in der Politik und die Möglichkeiten, die es online für intolerante Menschen gibt, aber gesellschaftsfähiger geworden, zu hetzen. Das Gesprächsklima hat sich insgesamt erhitzt. Gleichzeitig wurde Rassismus immer wieder als Einzelereignis und Ausnahme heruntergespielt und als Problem einer Randgruppe dargestellt.
Was deshalb fehlte, war die Solidarität. Das Wort „Fremdenhass“ ist dafür ziemlich bezeichnend. Fast jeder in Berlin hat aber Freund:innen, Kolleg:innen, Nachbar:innen mit Mirgationshintergrund. Das Ziel des Hasses ist die Mitte der Gesellschaft.
In Deutschland werden immer wieder rassistische Begriffe verwendet, oft auch unbeabsichtigt. Eine öffentliche Diskussion darüber wird immer stärker. Wie sehr prägt die Sprache den Rassismus?
Rassismus prägt eher die Sprache. Sprache kann Menschen ein tiefes, schlechtes Gefühl vermitteln und ausschließen. Das müssen viele Leute erst mal verstehen und akzeptieren. Ich denke, Sprache ist aber nur ein Teil des Problems, auch wenn sie in der Debatte gerade eine große Rolle spielt. Sie ist der Ausdruck einer Haltung: Entweder, man weigert sich, die Gefühle anderer zu achten, oder man ist wirklich Rassist.
Wenn sich Menschen auch 2020 noch wehren, etwa das N‑Wort sein zu lassen, dann ist das eigentlich kein Kampf um die Sprache, sondern einer um die Einstellung. Es geht um eine falsch verstandene Meinungsfreiheit. Keiner hat das Recht, andere zu beleidigen.
Vielfältigkeit der Stadt noch mehr als Ressource nutzen
Welche Formate und Strukturen müssten für eine starke und offene Gesellschaft noch geschaffen oder gestärkt werden?
Alles, was in Richtung zivilisierte Diskussion geht, ist sicherlich richtig und wichtig. Ich erlebe häufig, dass Menschen dicht machen, wenn sie merken, das Gegenüber ist anderer Meinung. Wir müssen uns trainieren, die Vielfältigkeit von Menschen auszuhalten. Deshalb ist alles, was Menschen miteinander ins Gespräch bringt, wertvoll. Dazu gehört auch, positive Gemeinschaftserlebnisse zu schaffen. Sei es ein Straßenfest, ein gemeinsames Engagement im Sportverein oder Projekte, die die Kieze zusammenbringen, bei denen Menschen sich kennenlernen. Das alles ist wichtig, um Vorurteile abzubauen.
Wie stark ist die Engagement-Landschaft, um genau das zu erreichen, die Vorurteile abzubauen?
Sehr stark, es gibt viele tolle Projekte in diese Richtung. Aber man könnte die Vielfältigkeit der Stadt noch mehr als Ressource nutzen. Im Gesellschaftsdiskurs taucht das Wort „Migrationshintergrund“ meistens im Zusammenhang mit Negativem auf: Brennpunkte, Arbeitslosigkeit, Sprachprobleme. Das Engagement könnte anderes in den Fokus nehmen, die vielen positiven Effekte, die es hat, wenn man persönlichen Zugang zu einer anderen Kultur und Sprache hat. Viele Menschen aus migrantischen Kreisen wären sicher noch offener für Engagement, wenn sie mehr mitgestalten könnten, mit Ideen aus ihrer speziellen Perspektive.
Lern.Ort.Engagement. | 10. Berliner Engagementwoche | Auf ein Wort
zuletzt aktualisiert 11.09.2020